Die Angst schreibt das Drehbuch

Im Kindergarten bekam ich die erste Rolle. Ein Eichhörnchen sollte ich spielen. Die Erinnerungen sind nur noch vage. In der Schulzeit stand ich auch einige Male auf der Bühne. Einmal als "Hirt-in". Da vergaß ich meinen Text, lief knallrot an und wollte das Publikum wegbeamen oder besser noch mich. 

 

 Als Teenager saß ich in der Theater-AG und sprach wie viele andere Interessenten vor. Meine Stimme stammelte leise und war zittrig. An diesem Tag wäre ich sogleich im Erdboden versunken. "Lauter, Mädchen! Spreche lauter!", hatte der Leiter gerufen und mir einen genervten Blick geschenkt. Wahrlich war ich keine Bereicherung für diese große Schulbühne gewesen. 

 

An der Nordsee spielte ich in einem Laienstück eine grantige Frau. Grantig lag mir nicht. Das Schauspiel war offenkundig nicht meine Stärke. Stets war ich zu aufgeregt in andere Rollen zu schlüpfen. Im Regenmantel auf einer Bank, sollte ich mein altes Leid klagen. Beschwerlich sei das Leben und die Touristen alle unstete Nervensägen. 

 

Und doch wurde ich zu einer Frau des Schauspiels gedrängt, verdonnert und es gab kein Entkommen. Eine Angststörung schreibt ein eigenes Drehbuch. Ich schlüpfte im Laufe der Zeit in so viele Rollen, in denen ich immer besser wurde, so unfreiwillig. 

 

Schon als junge Frau mit 17 Jahren konnte ich perfekt imitieren. Eine plötzliche Erkältung (der Fiebermesser zeigte sogar einige Male 37,4 an), , gab ich zum Besten, wenn ein familiäres Treffen anstand. Mit "schnupfiger" Stimme klagte ich leidvoll meine Absage. Die wetterbedingten Kreislaufstörungen verbunden mit Blässe und Mattigkeit bot ich zur Schau, wenn Restaurantbesuche oder ähnliches geplant waren. In der nächsten "Rolle" schlüpfte ich in eine von Migräne und Übelkeit geprägte Frau. Ich konnte auch die Hand heben, abwehrend und mit großer Unlust mich einem Vorhaben entsagen. Phantasievoll war ich stets gewesen und jede Rolle wurde gespielt. Auf Startknopf flossen Bäche von Tränen und ich war die echte Drama-Queen.  Das "Schauspiel" musste meine Zuseher überzeugen. Die Angst wollte schließlich gewinnen. Einige Male, gerade zu Anfang, gab es aus dem Umfeld auch keine Zweifel. Fragen gab es nicht, denn meine Antworten reichten aus. Die visuellen und die wortreichen. Was mir als junges Kind bis zum Teenager nicht gelang, erreichte jetzt eine Perfektion. Fast zwei Jahrzehnte schlüpfte ich in unendlich viele Rollen. Niemals sollte ein Außenstehender den Grund meiner Handlungen erfahren. Ich wurde leidlich, kränklich, eine Eremitin und zur Außenseiterin. Ich verbot mir ein Lächeln oder schwang mit Charme eine neue Ausrede aus dem Zauberhut.. Meine Freunde zogen am Wochenende ins Nachtleben, ich entsagte ihren Fragen mit kreativem Schauspiel und hoffte sie würden aufgeben zu fragen, ob ich sie begleiten würde. 

 

Diese vielschichtigen Rollen raubten mein eigenes Ich. Sie ließen mich abstumpfen und machten mich schwermütig. Die Angst war eine große Lehrmeisterin und eine eindrucksvolle strenge Hand. Sie war stärker, als alles andere. Ich folgte ihr schweren Herzens, denn ich sah keine andere Wahl.

 

Du bist stets ein anderer, aber nie der, der Du bist. Du warst eine Schauspielerin. 

 

Angst ist täuschend echt. Du glaubst ihr jedes Drama, jede Krankheit in jeder Lage. Es widerstrebt Dir ihr zu folgen, aber es bleibt keine andere Wahl. Zu schlimm könnte das mögliche Ende sein! Du folgtest ihr blind in jede Ecke, in der sie Dich drängte. Ein Spiel voller Dramaturgie und Leid. Angst ist eine begnadete Regisseurin. Du folgst ihr ohne zu fragen. Du wählst jede Rolle und stellst keine Frage. 

 

Heute sehe ich den Beruf eines Schauspielers/einer Schauspielerin - mit großem Respekt vor diesem Beruf!