Der Irrsinn der Ablenkung

Die Phantasie war grenzenlos. Schon sehr früh gab es die ersten Ideen der Ablenkung oder auch Hilfsmittel. Über viele, viele Jahre nutzte ich diese Strategien, natürlich erfolglos. 

 

Diese Marschrichtung gaben auch die ersten Arztbesuche an. Der Hausarzt drückte mir "Effortil"-Tropfen in die Hand. Mein Augenmerk setzte ich auf den Geschmack von Pfefferminze. Immer hatte ich Pfefferminz in unterschiedlicher Form bei mir. Als Tropfen, als Tee, als Bonbon. Zu dem Kraut packte ich die Kreislauftropfen und wählte Traubenzucker. Mein Überwachungssystem lief stets auf Hochtouren. Es galt eine lauernde, drohende Ohnmacht zu verhindern. Immer wieder fühlte ich am Hals meinen Puls. Wie klang er? War er überhaupt zu fühlen? War er nicht zu langsam? In der Dunkelheit ging es mir besser, also freute ich mich auf die triste, dunkle Zeit der Jahreszeiten. Da lebte ich auf. Ich verharrte tatsächlich auf dem Sofa, bis die Dämmerung einbrach. Erst wenn es dunkel genug war, packte mich der Mut und ich schnappte mir den Rucksack um ein paar Meter mit dem Auto zu fahren und ein paar Freunde zu treffen. Das war das, was mir mit 18-19 Jahren noch verblieben war. Ich konnte ein paar km fahren. Nur in der Dunkelheit und mit einer Karawane von "Hilfsmitteln". In meiner Tasche befanden sich also: Traubenzucker, Kreislauftropfen, Baldriantropfen, Pfefferminze, ein Getränk, Brot oder Brötchen (Zucker) und ganz wichtig ein Schal oder Halstuch. (Meist trug ich es aber). Das Tuch wollte ich mir vor den Mund halten, wenn eine Hyperventilation drohen könnte.. Schwieriger wurde es für mich wenn die Jahreszeiten sprangen. Wenn der Frühling nahte, dann sank meine Laune auf den Nullpunkt und ich konnte oft nur noch sehr sehr spät losfahren. Viele Male war ich auch wieder umgekehrt. Wenn die Luft lauer wurde, raubte sie mir den Atem und verstärkte den Schwindel. Der Schwindel war mein täglicher Begleiter.  

 

Wenn ich unterwegs war, brauchte ich immer eine Sitzmöglichkeit in der Nähe oder eine Tür. Ich könnte ja....das Bewusstsein verlieren, weil ich zu lange gestanden hatte. Ständig wechselte ich. Sitzen, Stehen, Laufen...Ich war unruhig. Manchmal schlich ich mich aufs WC, obwohl ich gar nicht diesen Ort aufsuchen musste. Aber hier schloss ich mich ein und versuchte mich zu beruhigen. Es war ein ständiger Kampf. Die "innere Überwachung" kostete unglaublich viel Kraft. Je nach Tagesform scheiterte ich schon nach einer Stunde - an guten schaffte ich es länger im Kreis meiner wenigen "Kontakte" zu verweilen. Unzählige Male hatte ich mich verabschiedet, war vor die Tür gegangen und zum Auto und hatte plötzlich wieder Mut und hatte wenige Minuten später wieder im Kreis der Freunde gestanden und gestammelt: "Hab es mir anders überleg!".  Im Sommer blieb ich irgendwann zu Hause. Und nach einem Sommer gab es auch keine Ausfahrten mehr im Herbst oder Winter. 

 

Auch im Haus hatte ich meine Hilfsmittel. An heißen Tagen lief ich mit einem nassen Handtuch durchs Haus oder machte mir ständig meine Haare nass. Abends schlief ich mit einem nassen Waschlappen auf der Stirn ein. Ich umklammerte die Kreislauftropfen und vermied es lange zu stehen oder nur zu sitzen. Ich war akribisch kontrolliert. Irgendwann kam ich auf die Idee mir ein Blutdruckmessgerät zu kaufen. Fortan legte ich es mir an und führte Buch. Natürlich schwankte der Blutdruck und natürlich machte es mir alles noch viel mehr Angst. Es wurde irgendwann so schlimm, dass eine Messung der nächsten folgte. Zwischendurch kontrollierte ich mit dem Fieberthermometer die Körpertemperatur. Auch Gedankenspiele zogen mit in diese konfuse "Kopf-Welt" ein. Das ABC oder 1,2,3 war mir einfach zu simpel. So begann ich das ABC rückwärts auf Englisch aufzusagen. Auch das konnte mich irgendwann nicht mehr ablenken. Da ich auf einigen Sprachen zählen kann, gab es ein neues Spiel. Eins auf Deutsch, Zwei auf Englisch, Drei auf Französisch, Vier auf Spanisch, Fünf auf Griechisch und Sechs auf Italienisch. Das ging einige Runden gut, aber dann verhedderte ich mich oder die Angst stoppte diesen Irrsinn und die Fähigkeit mich zu konzentrieren. In den vielen Jahren hatte ich zunächst nicht verstehen können, dass diese ganzen "Unternehmungen" nicht hilfreich sein können. Ich konnte das alles nicht kontrollieren. Niemals. Im Gegenteil. Je mehr ich mich mit der Ablenkung, dem Aushalten und dem "Bewältigen" beschäftigt hatte, je tiefer sank ich ein und je schwieriger wurde es für mich neue Ablenkungen zu finden, die im Endeffekt nie funktionierten. 

 

Es gab noch so viele weitere Kuriositäten. Wenn ich an dieser Stelle alle aufzählen würde, hätte keiner mehr heute Zeit für etwas anderes. Es war dramatisch und es zeigt mir heute, wie schwerwiegend meine Angststörung gewesen war. Wie "festgesteckt" meine Grenzen im Kopf waren:" Das kann ich nicht. Das schaffe ich nicht. Die Angst ist zu groß." 

 

In einer Therapiesitzung formulierte mein Psychologe eine sehr entscheidende Frage:" Und wie bitte wollen Sie eine Ohnmacht kontrollieren oder verhindern, wenn sie nun käme?" - Auf diese Frage hatte ich einfach keine schlaue Antwort und in diesem Moment verstand ich meinen Irrsinn, den ich da trieb. Diese ganze "Kontrolle" würde bei einer Ohnmacht gar nicht erfolgreich sein können. Genauso wenig konnte ich wissen, was mir die nächste Minute meines Lebens bringen würde. Ich war die selbst erkorene "Schlaumeier-Trulla", die aber genau dachte das zu können. Ja, wie? Ich war alles andere als ein Übermensch oder hatte "übersinnliche" Fähigkeiten. 

 

Menschen, die eine Angststörung haben betreiben das strategische Spiel der Ablenkung mit einem beeindruckenden Ehrgeiz. Sie wissen es auch nicht besser. Oft wird es ihnen (meiner Meinung nach fälschlicherweise) auch bei ihren ersten Arztbesuchen/Therapien vermittelt. Da werden bunte Pillen verschrieben, die die Angst "verhindern" oder "lähmen" sollen. Es werden Ideen entwickelt, wie der Betroffene sich mit seiner Angst anfreunden oder diese als Feind sehen könnte. Es gibt so viele unzählige, verschiedene Ansätze. Bei mir haben alle diese Ansätze nicht funktioniert. Auf keinen Fall von Dauer. Die Angst lief immer mit. Als Freund, als Feind, als Lover, als Gepäck oder als Gewicht. Ich habe mich (aus dem Bauchgefühl heraus und auch weil ich sehr viele Fachbücher gelesen hatte) ganz bewusst gegen die Einnahme von Psychopharmaka entschieden. Vermutlich war diese Entscheidung auch einer der wichtigsten Punkte, dass wir (mein Psychologe und ich) so gut zusammen arbeiten konnten. Ich wünsche, dass jeder Betroffene sich Gedanken macht, dass diese Angst nicht grundlos in das Leben gekommen ist und es nicht unwichtig ist sich diesen Zustand anzusehen. Es heißt allerdings nicht gleichzeitig für den Betroffenen, dass wenn er die Gründe seiner Angststörung verstanden hat, die Angststörung los wäre.. Ganz so einfach ist das mit der Angst leider nicht. Sie ist schon hartnäckiger. 

 

 

 

 

 

 

 

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