Der Supergau - eine Notlage

"Nichts geht mehr!" - Sie sieht es ein. Wie ein Würmchen hockt sie in der Ecke, hält sich das Gesicht, rauft sich die Haare und scharrt mit den Füßen. "Es geht nichts mehr!" Die Angst ist zu mächtig. Sie raubt jeden klugen Gedanken. Sie radiert die Hoffnung auf ein Leben aus. Sie wird sterben. Sofort, in der nächsten Minute oder am nächsten Tag. Die Angst schreit es in ihr. In der Ecke lauert das Blutdruckgerät - im Schrank stehen die Kreislauftropfen. Soll sie es wagen sich vom Sofa zu erheben? Es sind nur wenige Schritte in die Küche! Aber Schritte, die zu viel sein könnten. Wie ein nasser Sack würde sie hinknallen. Vermutlich mit dem Kopf auf den kalten Boden aufkommen. Es würden ihre letzten Minuten werden. Sie will es so nicht. Sie will diesen Zustand "weghaben". Sie will doch leben. Sie ist noch jung. Eine kalte, klatschnasse Hand sucht den Puls am Hals. "Schlägt er noch? Schlägt er nur noch leise?" Fragen, die sie sich am liebsten gar nicht stellen möchte, denn sie machen ihr Angst. Noch mehr Angst? Ist es überhaupt noch möglich? Noch mehr Angst zu verspüren? Sie hält sich den Pullover vor dem Mund. Sie will sich schützen. Keine Hyperventilation jetzt erleben. 

 

Es ist Zeit. Zeit wofür? Da formen sich schon die scheinbar rettenden Gedanken: "Nur eine Klinik könnte ihr noch helfen!" Aber könnte sie das`? Wie sollte sie denn den Weg überstehen? Sie müsste die Haustür öffnen und sie müsste die Welt außerhalb ihrer vier Wände ertragen? Sie müsste im Auto fahren? Wie sollte sie das schaffen? Sie zittert nun noch schlimmer. Sehstörungen. Der Raum hat komische Farben. Sie weiß nicht ob sie frieren oder schwitzen soll. Fahrig fährt sie sich durch die Haare, ergreift einige Strähnen und spielt mit ihnen. Sie giert nach Ablenkung. Irgendeiner! Eine rettende Ablenkung, die Lawine der Gedanken stoppen könnte!  Wie ist das Tageslicht? Grau in grau mag sie nicht. Das macht ihr noch mehr Angst. Zu sonnig ist auch nicht gut. Es könnte zu warm sein. Der Kreislauf noch mehr streiken. Milde Luft, meist wenn der Süd- oder Südwestwind weht schenkt ihr Kreislaufprobleme. Sie hält es kaum aus. Wo um Gottes Willen liegt die Tageszeitung? Die Wetterprognosen mitsamt dem täglichen Biowetter muss sie nun auf der Stelle lesen. Sie muss sich nun erheben. Wie eine uralte Frau versucht sie aus ihrer Sitzposition zum Stand zu gelangen. In Zeitlupe. Garantiert gibt dieses Schauspiel  für Außenstehende ein seltsames Bild ab. Ihr ist es egal. Sie hängt fest in ihrer Angst. Irgendwie steht sie,  schiebt einen Fuß vor den anderen. Die Zeitung, sie will die Zeitung holen. Sie liegt im Nachbarzimmer. Es sind nur wenige Schritte. Es flimmert vor den Augen. Zwielicht. Noch lebt sie -noch atmet sie. Die Beine halten nur schwer. Sie fühlen sich butterweich an. Irgendwann hat sie die Zeitung in der Hand. Mit schneller Bewegung sucht sie die passende Seite. Ein paar Blätter fallen zu Boden. Es ist ihr egal. Sie braucht nur diesen Text des Biowetters, Sofort! Jetzt! Er gibt ihr Sicherheit. Sie will sehen, ob es kälter wird. Vielleicht Nordwind. Das Wetter bestimmt, wie sie sich fühlt. Nicht sie. Sie fühlt sich ausgeliefert. 

 

Es soll kälter werden. Ganze fünf Grad. Sie atmet auf. Etwas Anspannung fällt ab. Sie muss also nur noch den heutigen Tag überstehen. Kein Blaulicht, kein Rettungswagen, kein Drama - all´ das will sie nicht. Sie muss es schaffen. Sie hat es schon so häufig überlebt. Aber jedes Mal ist es schlimmer. Heute auch. Noch steht sie, noch läuft sie in der Wohnung umher. Sie wird unruhig. Vielleicht muss sie etwas trinken oder etwas essen? Vielleicht sackt der Blutzuckerspiegel ab? Zu viel essen darf sie aber auch nicht. Auch das belastet den Kreislauf. Sie möchte auch nicht dicker werden. Jeden Tag kontrolliert sie ihren Hüftspeck und fühlt sich wohl, wenn sie nur die Knochen spürt. Sie war nie die dünnste - in der Schule wurde sie sogar gehänselt. Sie hätte einen dicken Po und breite Hüften, stabile Beine. Dafür hatte sie sich immer geschämt und gewünscht wie all die anderen Mädchen zu sein, die dünner waren. Vor einigen Jahren hatte sie aufgehört alles zu essen, was dick macht. Sie hat Buch geführt, alles niedergeschrieben. Jede Mahlzeit. Die Kilos waren gepurzelt. Es war oft schwer. Dennoch hielt sie durch und wog eines Tages fast 18kg weniger. Es tat gut in der Kaffeerunde zu sitzen und stolz das Kuchenstück zu verweigern. Sie sah zu, wie die anderen den Kuchen aßen. Sie war stark. Sie hatte es nicht gebraucht. Die Angst hatte sie nicht kontrollieren können bisher, aber ihren Hunger. Das war und ist ihr Sieg! 

 

Im Moment hofft sie einfach nur noch, dass es Abend wird. Abends geht es ihr meist besser. Sie weiß dann, sie hat wieder einen Tag mehr überlebt. Es schien, als käme sie dann etwas zur Ruhe. An guten Tagen kann sie sich sogar so gut konzentrieren, dass sie ein Buch lesen kann oder sie legt sich ins Bett und hört Musik. Sie liebt Musik. Musik ist wie Balsam. Harmonische Töne umhüllen ihre Schwärze, ihre unangenehme Elektrizität und ihre tiefe emotionale Traurigkeit, ihre Verzweiflung. Es gibt einige Songs, die ihr ein Wohlgefühl vermitteln. Aber nur an guten Tagen, in guten Momenten kann sie in diese Welt tauchen. Manchmal fühlt sie sogar etwas Glück. Es sind kurze Momente. Diese Momente schenken ihr Hoffnung. Hoffnung doch eines Tages wieder frei leben zu können. Manchmal singt sie mit. Dann vergisst sie die Angst, fühlt sich kurz frei. Sie spürt ein Leben. Es sind aber nur Minuten, vielmehr Sekunden. Dann folgt ein nächster Supergau. Wer weiß schon, ob es der letzte sein würde? 

 

Angstanfälle sind legitime psychiatrische Notsituationen. Ich lese gerade das Buch von Nicholas Müller. Durchgelesen habe ich es noch nicht. Es fordert. Es fordert auch mich, denn es holt Erinnerungen hervor. Sie schmerzen nicht, aber sie sind fühlbar. Ich mag diesen Satz:.

 

Zitat aus dem Buch von Nicholas Müller: " Ich bin mal eben wieder tot!" - Zitat: "Begeben Sie sich in Therapie", rät sie noch "alles andere ist nur ein Krückstock und Polster und hilft auf Dauer nicht!". - /Zitat Ende.

 

 

 

 

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