Krieg - oder die Mathematik im Kopf

Neonlicht war einer meiner ersten Gegner. Schon in der Schule! An tristen, grauen Tagen war es an. An dunklen Wintermorgen war es an. Immer saß ich dann mit schweißnassen Händen und inneren Krampf leise kippelnd auf dem Stuhl und schaute aus dem Fenster. Was ein Lehrkörper gerade predigte? Keine Ahnung - ich war im Überlebenskampf. Wenn es heller wurde, das Neonlicht auf "off" stand, atmete ich erst einmal leise auf. Im Laufe der Zeit gab es weitere Gegner. Immer wieder, immer mächtigere! Kurz vor der Führerscheinprüfung hatte mir ein Optiker eine Art Lesebrille verfasst. Ich glaube es war eher Fensterglas. Allerdings liebte ich das Spiel mit der Brille, wenn es "losging", wenn mich die Unruhe packte. Brille auf - Brille ab - Brille auf - Brille ab. Ich war abgelenkt - jedenfalls ein wenig. Und täglich wurden sie immer mehr. Eine ganze Parade Hilfsmittel hatte ich schon zusammen. Halfen sie? - Mitnichten!

 

Wenn ich zum Beispiel morgens mit Unruhe losfuhr in Richtung berufliche Schule, die ich nach dem Gymnasium besucht hatte (weil sie näher am Zuhause lag), drehte ich das Autoradio/CD auf und sang kräftig mit. Mein liebster Song wurde "Δεν φοβάμαι τίποτα` (Then fowame tipota: Ich fürchte nichts)... Einige Male rettete mich mein schräger Gesang vor einer Hyperventilation oder einer ausufernden Panikattacke. Den Song kann ich heute noch auswendig - und es ist viele Jahre her. Idealerweise - so ist es mir heute leider erst gewiss - sorgte ich auch mit meinen ganzen Aktionen (Gegenwehr) dafür, dass die Angst schlimmer wurde. Die Atmung durch die Nase schaltete ich auf "off" und wechselte zur hechelnden Mundatmung. Hier pumpte ich immer schneller Sauerstoff in meine Lunge. Kreisende Gedanken der allerschlimmsten Szenarien (Blaulicht, Ohnmacht, Kontrollverlust, Herzattacke...) sorgten für immensen Stress. Gierig griff ich zu einem Hustenbonbon oder wühlte einfach wie bescheuert in den Fächern im Auto herum. Nur, um zu erfahren: Ich lebte noch.! Ja, irgendwie lebte ich noch. Es tobte ein Krieg der Gedanken. Blitzschnell - die Angst hatte sich gut bewaffnet. Schon längst war ich zu einem jämmerlichen Feind mutiert. Ich leistete nur noch wenig Gegenwehr. Kein Hilfsmittel war dauerhaft gut. Meistens funktionierten sie nur ein- oder zweimal. 

 

Begab ich mich mit pochendem Herzschlag waghalsig in eine Situation, die im Kopf für mich eher unvorstellbar war, benötigte ich irgendwann immer eine Sitzmöglichkeit im Auge. Ständig dachte ich, sitzen zu müssen. Die Angst, schlicht und einfach aus den Latschen zu kippen, war allgegenwärtig und mit den ganzen empfundenen, körperlichen Symptomen, kaum ertragbar. Gab es keine Sitzmöglichkeit in greifbarer Nähe, wurde ich kreativ. Ich hockte auch schon einmal nach Luft schnappend und fast erschöpft auf einem WC herum. (auf einer Familienfeier) oder saß im Auto, um wieder Kraft und Mut zu tanken für die nächste Runde - gegen meinen unglaublich zähen Gegner, die Angst. Ich kämpfte immer. Ständig und jeden Tag. Aufgeben? Nein, aufgeben wollte ich nicht. Niemals. Ich versuchte es mit "Meditations-Musik", probierte es mit Sport (sprang zu Hause jeden Tag akribisch 1000x Seilchen) oder fuhr immer um den Häuserblock (weiter hatte ich mich nicht mehr getraut) eine Stunde lang Inline-Skates., strich alles ungesunde aus meiner Ernährung, sagte mir wie ein Mantra: Es ist "NUR" Angst - Du bist gesund" u.v.m. 

 

Was soll ich sagen? Es hatte irgendwann nichts mehr geholfen. Kein Hilfsmittel! Meine Phantasie rief laut: Kapitulation! Es geht nichts mehr!". Ich hatte auch keine Kraft mehr. Ich gab auf - auch wenn ich nicht ganz aufgab. Denn auch bei der totalen Vermeidung nicht mehr vor die Tür zu gehen, hatte es die Angst in meinem Leben weiter gegeben. Sie war deswegen ja nicht weg. 

 

Heute muss ich schmunzeln, wenn ich lese, was sich andere Betroffene alles so einfallen lassen, um ihrer Angst den Rücken zu kehren. Vielleicht hilft es dem einen oder anderen. Ich konnte jedenfalls keinen dauerhaften Erfolg buchen. Vor jedem Versuch schob sich wie ein Schatten, die Angst. Auch die negativen Gedanken in positive Gedanken wandeln - ja, das klang reizvoll und auch logisch. Allerdings lag zwischen Theorie und Praxis - mein Wunschdenken. Jeder kann sich ausmalen, was dann passierte! - Richtig! Nichts. Gar nichts. Es gab keine Ohnmacht, kein Herzstillstand und ich drehte auch nicht durch. Auch die spannende Technik - Progressive Muskelentspannung nach Jacobson machte ich stets gemeinsam mit der Angst. 

 

Die Kehrtwende hatte erst eins gebracht. Mein Willen nicht mehr länger vor der Angst zu weichen. Ich hatte ihr in die Augen sehen wollen und ich hatte von Herrn Wolfgang Siegel genau erläutert bekommen, wie ich die Angst wie ein "alter Hase" immer wieder erzeugt hatte. Mutig stand ich also eines Tages am Abgrund! So stelle ich mir den Moment eines Mutigen vor, der gerade vor dem Absprung seines ersten Bungee-Sprungs steht. Ich kämpfte nicht mehr. Ich ließ es geschehen. Alles! Ich wollte es mir ansehen und herausfinden ob ich wirklich ohnmächtig werden würde oder mein Herz zum Stillstand kommen würde? Ich würde nicht mehr wegrennen, wenn die "Welt" in meinen Augen flimmert oder ich Gefühle der Fremdheit erlebe. Im Gegenteil. Genau das wollte ich jetzt. Mit gezogenem Schwert forderte ich meine Angst zum Duell. Ich wollte sehen, ob ich sterben würde. Auch in meinem Inneren wuchs eine ungewohnte Stärke.

 

In der Schulzeit hatte ich einige Zeit übelstes Mobbing erlebt. Lange hatte ich nicht verstanden, dass auch ich ein gewisses Maß Mitschuld getragen hatte. Ich hatte mich nie gewehrt. Ich wollte "stark" wirken und dachte, es passiere mir nichts, wenn ich mir nicht anmerken ließe und es einfach ignorieren würde. Wenn ich heute darüber nachdenke, gestehe ich mir ein, dass ich einfach nicht gewusst hatte, wie ich mich hätte wehren sollen. Als ein Mensch mit einem hohem Maß an Gerechtigkeitssinn und wenig Ambitionen zum Streiten, hatte ich einfach keine Ahnung. Mein Leben war sehr nach "außen" gerichtet. Ich wollte immer Gefallen finden  und strebte nach jener unerreichbaren, unmenschlichen Perfektion. Just in dieser Zeit meiner Wandlung entschied ich, dass es mir fortan egal sein wird, was andere Menschen von mir halten. Zeitgleich war meine Unsicherheit fast nicht mehr spürbar. Ich ruhte in mir und kam mir selbst näher. Die Angst wurde leiser - sie verzog sich. Meine Gedanken änderten sich. Mein Geist kam zum Stillstand. 

 

 

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