Das Gestern ist nicht das Heute

Im Alltag, in der Kommunikation fällt mir häufig auf, dass viele Menschen über ihr "Gestern" berichten. Es sind oft die tragischen, traurigen Momente, die sie nicht loslassen. Einige Gesichter zeigen im Erzählfluss eine ungeheure Wut. Es ist zu ahnen - ohne es zu wissen - was tief in Ihnen vorgeht. 

 

Bin ich wütend? Wütend über meine "verlorenen Jahre"? Erfüllt mich Traurigkeit, weil ich so viel "verpasst" habe oder nicht "erleben" konnte? Fehlt mir das? 

 

Horche ich tief in meinen emotionalen Jetzt-Zustand, erfahre ich auch auf dieser Reise Gefühle von Gelassenheit. Ich bin nicht wütend. Ich bin auch nicht enttäuscht. Mein "Gestern" steht als geschriebenes Buch im Regal - zwischen all´ den anderen Geschichten.

 

Als ich 20 Jahre war lag ich oft abends im Bett und die Tränen rollten. Ich musste heftig schlucken, wenn ich im TV sah, wie es sich anfühlen könnte nur "jung" zu sein. Flirten, Verlieben, Zukunftspläne, Discobesuche, Städtereisen, Freunde treffen...Eine mögliche Heirat war für mich unerreichbar.  Wie wäre es wohl? Ich hatte es mir oft ausgemalt, wie es wäre, wenn ich einfach so "normal" leben würde. Wie jedes junge Mädchen. Wie es sein könnte einen junge Mann kennenzulernen, Dates auszumachen und eine Partnerschaft aufzubauen...? Gemeinsam ans Meer zu fahren, sich an die Hand zu nehmen und nur das "wenige" als "großes" Ganzes zu fühlen? Wie wäre es Kinder zu bekommen? 

 

Meine Großmutter sagte einmal zu mir:" Die "Männer" sehen Dich gar nicht - Wenn Du nicht vor die Tür gehst, dann kannst Du Dich nie verlieben! Das ist schade! Auch für die Männer!". 

 

Auch wenn ich eine Angststörung hatte, war ich doch ein junges Mädchen mit vielen Hoffnungen, Sehnsüchten gewesen. In mir entstand oft eine Leere, die sich ganz schlimm anfühlte. Diese Leere überdeckte das emotionale Empfinden und unterdrückte die Traurigkeit. Heute interpretiere ich es als "Selbstschutz". Nur so hatte ich es damals aushalten können, dieses sozial karge Leben. Ich war jung und doch nicht jung gewesen.. Meine Brieffreundschaften waren mir heilig. (Internet gab es da noch nicht). Es war stets ein sonniges Gefühl, wenn ich einen oder mehrere Briefe aus dem Postkasten ziehen durfte. Etwas, was jeden dunklen Tag heller machte.  Einige, länger andauernde Brieffreundschaften wurden allerdings auch oftmals zu einem Problem. Einige trugen die Bitte vor sich einfach auch einmal persönlich zu treffen. Das war für mich wie ein elektrischer Schlag. Entweder ich zog mich dann zurück oder ich erfand Ausreden, um den Abstand zu wahren. Die Wahrheit hätte ich nicht auf das Papier bringen können. 

 

Was ein Mensch mit einer längeren Angststörung irgendwann perfekt beherrscht - die Sprache der Ausreden. Sie fliegen irgendwann automatisch über die Lippen. Aber auch das fühlt sich nicht gut an. Es ist wie ein "Schauspiel". Du wirst zu einem Protagonisten in einem Theaterstück, bei dem Du aber eigentlich nur widerwillig diese Rolle spielen musst. Es gab auch jene Momente, in denen es Dir sonnenklar war, dass Du nie wie ein normaler Mensch wieder leben wirst können! Es gab Zeiten, da hatte ich mich damit abgefunden. Die Welt =da draußen" wurde irgendwann zu einem anderen Planeten. Ich wurde zu einer Fremden!  Das meiste kannte ich nur noch aus dem Fernsehen, aus Zeitschriften oder der Tageszeitung. Es gab Orte, Stadtfeste die kannte ich nur von Erzählungen. und wollte dennoch alles darüber wissen. Stundenlang konnte ich den Erzählungen lauschen. 

 

Trotzdem empfinde ich heute keine Traurigkeit oder Wut. Es klingt nach "verlorener Jugend", aber ich hatte eine andere, nicht typische Jugend erlebt. Ich denke nicht darüber nach, welche berufliche Richtung ich hätte eingeschlagen, wenn die Angst nicht mein Vorreiter gewesen wäre. Was würde es auch bringen? 

 

Betroffene erzählen oft aus ihrem Gestern, bekommen feuchte Augen, wenn sie sich an die Zeit erinnern, in der die Angst nicht im Vordergrund war. "Wenn die Angst nicht wäre, würde ich....!" - oder - "Wenn ich keine Angst hätte, dann....!". Entrüstet wird auch gesagt:" Ich habe doch eine Angststörung! Das kann ich nicht!". Dieser emotionale Rückzug/die wortkluge Verteidigung ist ein Selbstschutz. Es ist und bleibt die stabile Barriere im Kopf, diese Angst! 

 

Wie sollte es derjenige auch sonst aushalten? Der scheinbare Kampf gegen sich selbst, diesen imaginären Feind im Kopf (Angst), der jederzeit das Zepter des steuerbaren Denkens übernehmen könnte, schwebt wie ein Damokles Schwert über den Tag, der Nacht.. Als Betroffener ist es Dir nicht klar, dass die Angst kein "Überraschungsbesuch" ist, sondern einer den Du Dir eingeladen hast. Bist Du betroffen, wirst Du Dir jeden Tag unzählige Fragen stellen, Gründe suchen und Erklärungen finden, warum Du dieses oder jenes körperliche Symptom gerade erlebst. Schuld hat der weibliche Zyklus, das Wetter, der familiäre Stress... - ganz vorweg aber diese "Krankheit", Deine Angst. Nach außen hing wird oft gejammert, sich beklagt und ja, was erwartest Du dann in diesem Moment von den anderen Menschen? - Verständnis? Mitgefühl? Hilfe? - Es ist oft nicht verwunderlich, dass die "Mitbetroffenen" somit ebenso überfordert sind. Die von Dir "als einzigartig schlimm" angeführten Symptome einer Angststörung werden oft als besonders "nicht zum aushalten"  beschrieben. "So schlimm wie ich es habe, hast Du es nicht!", beschreibt oft ein Betroffener im Gespräch mit dem anderen. Es ist auffällig, dass dieses Verhalten bei den allermeisten Betroffenen mit gleichen Worten beschrieben wird. Viele scheinen sich dann nur noch selbst in ihrer Welt der Angst zu erfassen.

 

Das Gestern ist nicht das Heute! 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Gundi (Dienstag, 06 Februar 2018)

    Sehr gut geschrieben..ich leide seit 18 Jahren darunter..kenne alle skills..
    aber die perfekte Lösung.???

  • #2

    Antwort (Dienstag, 06 Februar 2018 19:34)

    Hallo Gundi! Es gibt keine Skills ...genau das ist das Problem. Alles was gegen die Angst angeht, füttert sie nur!