Giftiger Moment

Soll ich? Soll ich nicht?

Schaffe ich das? Schaffe ich das nicht?

- Kontrolle -

wirst Du mich halten, umarmen und geleiten

oder werden wir rennen? Gemeinsam ...atemlos?

 

 

Irgendwann wurde alles unerträglich. Jede Minute, jede Sekunde ein Kampf. Jeder Ort,  jede Begegnung. Irgendwann stand nichts mehr still. In den Anfangszeiten war es nur der Weg zur Schule. Schlimmer der Fußweg, als die Busfahrt. Er funktionierte besser mit der Schulfreundin an der Seite - oder mit dem Kopfhörer im Ohr. Peinlich genau achtete sie darauf, dass die Batterien nur nicht versagen werden. Jemand, der ständig die lauernde Panikattacke im Nacken verspürt, wird zum Pedanten und sorgt für Hilfsmittel. Als der Führerschein in der Tasche, das kleine Auto vor der Tür parkte, war der Gedanke an den Fußmarsch zur Bushaltestellte und Busfahrt schier´ unerträglich. Nur noch mit dem Auto schaffte sie es zur Schule. Schwitzend, kämpfend - im Auto zur Musik laut singend. Betend, dass es irgendwie klappt. Ohne Panikattacke. Jeder Morgen war ein großer Ringkampf. 

 

An manchen Tagen fiel es ihr noch leichter. An einigen Tagen fuhr sie los und brauchte ein paar Anläufe, um ans Ziel zu gelangen. An einzelnen ging gar nichts. Sie saß oft zitternd im Auto, das Herz klopfte bis zum Hals. "Soll ich? Soll ich nicht? Schaffe ich das? Schaffe ich das nicht? - Es war ein ständiges Hin und Her. Rasant ging es in ihrem Kopf umher. Sie ballte die Faust, stampfte mit dem Fuß auf, schnappte sich die Tasche und ging wankend in das Gebäude, direkt in den Klassenraum. Sie saß und lächelte. Welcher Sturm in ihr fegte? Das sollte niemand sehen. Das Lächeln tat weh. Die schweißnassen Hände räumten die Tasche auf. Zitternd. Schwindel war permanent da. Konzentration - das war schon länger nicht mehr möglich. Ein Blick auf die Uhr! Ob sie das aushalten wird? So lange noch? So unendlich viele Stunden? 

 

Der Lehrer führte Monologe. Sie saß da und lenkte sich ab. Ein weißes Blatt Papier. Am besten klappte es Spiegelschrift zu schreiben. Einfach irgendwelche Worte. Zerrissen ...in ihr war alles konfus. In der nächsten Stunde vernahm sie die klugen Worte von Cicero. Direkt im Thema konnte sie nicht sein. Die "wirkliche Welt" war weit weg. Die Stimmen nur noch leise. Laut war es nur noch in ihr. Immer lauter. Der Schwindel, das Zittern, die Sehstörungen. Das Herz klopfte bis zum Hals. Sie malte weiter. Nahm Stifte in beide Hände. Sie schrieb gleichzeitig etwas auf. Mit beiden Händen. Eine Hand Spiegelschrift - die andere normal. Das lenkte sie ein wenig ab. Vielleicht konnte sie so die Panik hinter den Berg halten. Es waren nur noch zehn Minuten bis zur großen Pause. Nur noch. In der Pause konnte sie manchmal durchatmen. Auch wenn sie ungern auf den Pausenhof ging. In der Oberstufe braucht man das auch nicht mehr. Da regierte die Narrenfreiheit. Sie hielt sich gerne alleine auf oder stand einfach neben anderen. In ihrer Welt war es turbulent genug. Da wurde Ruhe zum Trost. 


Der Klang der Glocke ließ sie erschaudern. Das Atmen fiel schwer. Wie ein Brocken saß die Angst in der Kehle. Sie dachte an den Weg zurück. Die Autofahrt. Ungefähr 8km müsse sie überstehen. Und es sind noch vier Unterrichtsstunden mit großer Pause. Allein die Vorstellung ließ sie panisch werden. Sie verschwand auf die Toilette, lehnte sich an die Wand. Der Gestank war unerträglich. Aber hier war Ruhe. Niemand. Keiner, der sie komisch ansah. Niemand, der hinter vorgehaltener Hand flüsterte. In der Schultasche waren "Kreislauftropfen". Hastig auf ein Stück Würfelzucker (den hatte sie auch immer dabei) nahm sie diese. "Soll sie? Soll sie nicht? Schaffe sie das? Schaffe sie das nicht? Der Unterricht hatte sicher schon begonnen. Ihre Beine zitterten. Sie lehnte sich mit der heißen Stirn an die kühle Wand. Unmöglich war der Weg ins Klassenzimmer. Plötzlich wurde es außen ruhig, aber nicht in ihr.  Die Panik stieg hoch. Die schweißnassen Hände griffen nach der Tasche. Ein Atemzug und sie rannte los. Rannte aus dem Gebäude. Sie sah nichts. Nur noch das Ziel. Schnell zurück zum Auto. Tür auf, Tasche auf den Beifahrersitz und einfach nur weg! Schnell startete sie den Motor. Die Welt begann zu tanzen. Die Welt begann zu schwimmen. Das Autoradio an und los ging die Fahrt. Jetzt drehten sich die Gedanken. "Nach Hause,  nur noch nach Hause!". Sie drehte die Musik laut und wieder leise. Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Nur noch sieben km., sechs... Das Herz klopfte bis zum Hals. Sie suchte den Mut. "Ich schaffe das", sagte sie laut und trommelte mit der Hand aufs Lenkrad. Nur nicht schlappmachen. Kontrolle halten und behalten. Irgendwie. Nicht die Panik gewinnen lassen. Stoßgebete gingen über ihre Lippen. 

 

Fast war sie zu Hause. Doch was sollte sie sagen? Es war noch so früh. Ihre Mutter würde sie fragen, warum sie schon wieder zurück sei. Sie fühlte sich traurig. Wie ein Versager. Lieber hätte sie in der Schule gesessen, gelernt. Auch von Cicero. Sie lernte gerne. Da sie es in der Schule kaum noch schaffte, hatte sie sich ein Ventil gesucht. Sie lernte Sprachen. Sie las Fachbücher. Das ummantelte ihr schlechtes Gewissen und tätschelte ihr Versagerherz. So fühlte sie sich nämlich. Wie ein Versager! Eine Straße vor ihrem Elternhaus konnte sie dann wieder ruhiger atmen und auch wieder denken. Sie stellte das Auto ab. Atmete tief ein und aus. Ob sie wieder zurückfahren sollte zur Schule?  Sollte sie? Sollte sie das nicht? Sie kramte in ihrer Tasche, schaute traurig auf die Uhr. Die Gedanken krochen hoch. Ihre Vorstellung wieder im Klassenraum sitzen zu müssen schnürte ihr die Kehle zu. Sie fühlte sich klein und schwach und unendlich traurig. Sie begann auf das Leben zu schimpfen. Haderte mit Selbstmitleid. Warum bloß sie? Was hatte sie verbrochen? Die Zeit verstrich. Sie ließ den Motor an und fuhr die paar Meter heim. Vielleicht würde es morgen aufhören. Dieser Spuk in ihrem Kopf. Dafür würde sie alles geben. 

 

Sie zog den Schlüssel, nahm die Tasche und setzte ein Lächeln auf. Eine glückliche Tochter ging ins Haus, die von einem schönen Schultag zu erzählen hatte. All  das war so unglaublich anstrengend. 

 

 

 

 

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